Geschichte der Übersetzung
Die Geschichte der Übersetzung ist mehrere Tausend Jahre alt und teilweise nur bruchstückhaft bekannt. Theoretisch hat es mündliche Übersetzungen schon seit der Entstehung und Entwicklung der Sprache gegeben. Bereits in frühester Zeit gab es an den Grenzen zwischen verschiedenen Territorien Personen, die auch die Sprache der Nachbarn beherrschten, um mit ihnen kommunizieren zu können. Die Geschichte des Dolmetschens reicht mit Sicherheit noch weiter in die Vergangenheit als die Geschichte des Übersetzens, weil auch die Sprache selbst viel älter als die Schrift ist.
Kontinentale, nationale und regionale Unterschiede in der langen Entwicklungszeit der Übersetzung und des Verständnisses einer guten Übersetzung können in dieser Abhandlung nicht berücksichtigt werden. Der folgende geschichtliche Abriss der Übersetzung konzentriert sich auf die europäische Sicht:
Große Bedeutung für die Entwicklung der Übersetzungstätigkeit hat die Religion gespielt. Mit der Ausbreitung des Christentums und der damit verbundenen Christianisierung und Missionierung in bis dato nicht-christlichen Gebieten, wurde das Wort Gottes den verschiedenen Völkern durch Übersetzungen in die jeweiligen Volkssprachen näher gebracht. Bereits im 3. Jhr. v. Chr. existierte eine schriftliche Übersetzung der Bibel, die Septuaginta. Der Autor der lateinischen Bibelübersetzung Vulgata war der Kirchenlehrer HIERONYMUS, der heute als Schutzpatron der Übersetzer gilt. Sein Todestag – der 30. September – wird heute als Internationaler Übersetzertag gefeiert.
Lange bevor sich die Sprachwissenschaft als Disziplin durchgesetzt hat, war die Übersetzungsarbeit eine literarische Tätigkeit und somit auch ein literarisches Problem. Bereits in der ANTIKE existiert das altbekannte Problem – soll man bei der Übersetzung dem Wortlaut des Textes treu bleiben (wortgetreue Übersetzung) oder aber nur den Sinn des Textes wiedergeben (eine freie, literarische Übersetzung, eine Adaptation). Bei der Wiedergabe von Reden waren in der Antike z.B. nicht nur bloße Übersetzer am Werk, sondern talentierte Schriftsteller, die mit der Sprache umzugehen wussten. Damals maß man dem Sinn der Übersetzung mehr Bedeutung bei als der Anzahl der Wörter.
In nachchristlicher Zeit meinte EVAGRIUS, ein Zeitgenosse und Freund von HIERONYMUS, dass eine Wort für Wort Übersetzung den Sinn verberge. An Wörtern dürfe durchaus etwas fehlen, nicht jedoch am Sinn.
Wie bereits erwähnt, ist bei der breiten Ausweitung der übersetzerischen Tätigkeit das Christentum und die Christianisierung Ursache und wichtigste Treibkraft gewesen. Um die Inhalte des Christentums den Völkern näher zu bringen, bedurfte man der Verwendung der Volkssprachen. Viele erste Schriftstücke zahlreicher Sprachen sind daher auch Übersetzungen. Die „Eulaliasequenz“ aus dem Jahr 883 ist der erste literarische französische Text und eine volkssprachliche Adaptation einer lateinischen Hymne. Die Geburtsstunde der deutschen Sprache fundiert auf den „Straßburger Eiden“, einer Übersetzung einer diplomatischen Niederschrift in lateinischer Sprache.
Im MITTELALTER war das Übersetzungsverständnis im geistlichen Bereich noch von der Vorstellung beherrscht, dass die Heilige Schrift das Wort Gottes und somit unantastbar sei. In der Übersetzung schlug sich das insofern nieder, dass eher Wort für Wort übertragen und die Anzahl der Wörter in der Zielsprache so gut wie beibehalten wurden. Man war demnach um größte Wort- und Texttreue bemüht, damit eine Verfälschung der Inhalte durch persönliche Interpretation möglichst ausgeschlossen werden konnte. Außerhalb geistlicher Schriften, so z.B. bei Gedichten, Epen und Heiligenviten ging die Tendenz in die umgekehrte Richtung. Hierbei handelte es sich im engen Sinne nicht mehr wirklich um Übersetzungen, sondern um Adaptationen oder freie Übersetzungen. Es wurde resümiert, entwickelt und umgestaltet.
Im Mittelalter sind neben den geistlichen Übersetzungen auch die weltlichen von großer Bedeutung. Für die moderne Welt, waren vor allem Übertragungen der Araber mit Unterstützung der Juden aus der hebräischen und griechischen Sprache sehr wichtig. Dank ihrer Übersetzungstätigkeit wurden Europa bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse der alten Mediziner, Philosophen, Mathematiker und anderer Wissenschaftler offengelegt. Vor allem in Spanien und dort in Toledo, das im Zuge der muslimischen Eroberung der Iberischen Halbinsel zum kulturellen Mittler zwischen Orient und Okzident geworden ist, geht man dank zahlreicher christlicher, jüdischer und muslimischer Gelehrter eifrig der Übersetzungstätigkeit nach und bringt griechische Werke über den arabischen Weg an die europäischen Völker in ihren jeweiligen Volkssprachen.
In der RENAISSANCE erhalten Übersetzungen durch die Entstehung der Nationalsprachen eine völlig neue Bedeutung. Die Volkssprachen, deren Nutzungsbereich bisher eingeschränkt war, finden nun auch in der Verwaltung, Literatur, Justiz und Diplomatie sowie in der Philosophie und anderen Wissenschaften Verwendung. In der Blütezeit der Buchdruckerkunst erreicht zudem eine Vielzahl an Schriften die Leser, die keine der alten Sprachen, wie Latein, Griechisch, Arabisch oder Hebräisch, lesen können. Auch die Reformation hat die Übertragung der Heiligen Schrift in die neuen Nationalsprachen beeinflusst.
Als LUTHER im 16. Jahrhundert die ganze Bibel ins Deutsche übersetzt hat, merkte er an, dass man zum Übersetzen den Text genau verstehen muss. Ein falscher Christ oder ein Jude beispielsweise könnten daher niemals das Evangelium übersetzen, denn nicht das Wort selbst zähle, sondern der Sinn. Er ist der Meinung, dass der Respekt vor den Wörter, wie es noch in der Epoche davor üblich war, den Sinn und auch die Zielsprache „tötet“. Die Epoche der Renaissance hat mit den Normen aus dem Mittelalter, der Wort für Wort Übersetzung, gebrochen und sich der Tradition von CICERO, HORAZ und HIERONYMUS zugewandt und sich auf den Sinn eines Textes konzentriert.
Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Übersetzens und damit, was eine gute Übersetzung ausmacht, wurde immer stärker. Bis heute besitzen fünf Grundregeln, aufgestellt von ETIENNE DOLET, Schriftsteller und französischer Philologe, Gültigkeit: ein Übersetzer
- muss den Sinn und den Stoff eines Autors völlig verstehen
- muss die Ausgangs- und die Zielsprache völlig beherrschen
- soll sich nicht an den genauen Wortlaut klammern
- sollte sich vor Latinismen (also Lehnwörtern anderer Sprachen) hüten
- sollte einen guten, flüssigen, eleganten und gleichmäßigen Stil haben
In der KLASSIK bestimmt der französische Geschmack das Übersetzungsverständnis für etwa eineinhalb Jahrhunderte in bedeutender Weise.
Einerseits hält sich die These, dass das Griechische und Lateinische vollkommene Sprachen sind und von den modernen Sprachen als „schwächere Idiome“ nie übertroffen werden könnten. Sprachen im Allgemeinen waren umso vollkommener, je näher sie am Ursprung der Welt lagen. Diese recht religiöse Hypothese der Sprachgeschichte, eine Geschichte des Verfalls der Sprachen, steht einer mittelalterlichen Auffassung relativ nah.
Andererseits existiert jedoch zu der Zeit auch die Auffassung, dass das aktuelle 17. Jahrhundert an Schicklichkeit und Geschmack nicht zu übertreffen war.
Für die Übersetzung hatten diese beiden gegenläufigen Tendenzen zwei sich entgegenstehende Protagonisten: Die „Modernen“ konzentrierten sich bei der Übersetzung antiker Texte darauf, alles Anstößige oder dem damaligen guten Geschmack Widersprechende auszulassen, abzumildern oder zu modernisieren. Man entfernte sich gänzlich vom Wort und widmete sich grundlegend dem Sinn mit starker Anpassung an die aktuellen Vorstellungen von gutem Geschmack. Die Übersetzungen ins Französische „verbesserten“ die Originale und wurden „belles infidèles“ bezeichnet, weil sie zwar der Schönheit der Sprache und dem Sinn entsprachen, dem Originaltext aber nicht immer treu bleiben konnten.
Den „Modernen“ gegenüber standen die Fürsprecher der „Anciens“, die von der Überlegenheit der klassischen Sprachen überzeugt waren und aus diesem Grund eine treue Linie zum Text beibehielten. Da Frankreich und der französische Geschmack damals auf ganz Europa einen großen Einfluss ausübten, war die Adaptation bei Übersetzungen weit verbreitet.
Die Epoche der ROMANTIK bedeutet eine neue Wende für die Übersetzungstätigkeit. Die Nationalsprachen blühen auf und damit verbunden auch das Nationalgefühl. Ideologische Umwälzungen und die Vorstellung, dass Geschmäcker verschiedener Völker und Kulturen unterschiedlich waren, bedeuten das Ende der „belles infidèles“ als Muster für eine gute Übersetzung. Tendenziell nähert man sich wieder der Wort für Wort Übersetzung und schreibt der Genauigkeit und der Textreue – auch wenn dadurch die Schönheit des Textes verloren gehen sollte –einen höheren Wert zu.
Auch Goethe formuliert Thesen über die vollkommene Übersetzung und differenziert 3 Arten:
- die akademische Übersetzung, die neutrale Wiedergabe des Gedankengutes des Originals
- die paraphrastische Übersetzung, in der Art der „belles infidèles“, wobei man sich fremden Sinn aneignet und ihn mit dem eigenen Sinn rekonstruiert
- und die vollkommene Übersetzung, wobei der Sinn wiedergegeben wird und dabei die rhetorischen und rhythmischen Elemente des Originals nicht verloren gehen
Man könnte annehmen, dass nach vielen Jahrhunderten der Entwicklung des Übersetzungsverständisses nun gewisse Einigkeit herrscht. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Trotz der Erfahrungen und Verbesserungen der letzten Jahrhunderte, gibt es verschiedene Ansichten darüber, was eine vollkommene Übersetzung ist.
Ein Konflikt zwischen strengen Wissenschaftlern mit einer traditionellen Auffassung der wörtlichen Wiedergabe eines Originaltextes mit lexikalischer, grammatikalischer und syntaktischer Treue und den Literaten, die für eine intuitive Treue zum Textganzen plädieren und der Zielsprache eine gewisse Freiheit verleihen, die hin und wieder eine Loslösung vom Originaltext erlauben. Die neueren Ansätze der Übersetzungswissenschaft verlangen, dass unterschiedlichen Aspekten des Ausgangstextes unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird. Letzten Endes soll die Intention des Autors aus dem Originaltext im Zieltext möglichst genau wiedergegeben werden. Die theoretische Darstellung des Übersetzens und Dolmetschens in der Übersetzungswissenschaft wird genauer im Abschnitt „Übersetzungstheorie im Allgemeinen“ erläutert.
Quelle: Georges Mounin „Die Übersetzung“